"Was wären wir ohne ein paar Verrückte? Seht, wo uns die Vernünftigen hingebracht haben!" - George B. Shaw

Samstag, 23. Juli 2011

Selbstbeobachtung

Inspiration: Sie sieht mich nicht - Xavier Naidoo 

Wenn sie seinen Namen hört, fängt ihr Gesicht an zu strahlen – als ginge die Sonne auf. Er klingt wie Musik in ihren Ohren, wie eine verzauberte Melodie.
Ihre Augen werden groß und leuchten, ihr ganzer Ausdruck wird hell. Sein Name zaubert ein Lächeln in ihr Gesicht, als ob sie nie etwas Schöneres gehört hätte.
Wenn sie von ihm spricht, gestikuliert sie mit den Händen, als wollte sie ein Bild von ihm malen, als bilde sie ihn in der Luft nach, so lebendig ist er in ihrer Vorstellung. Jedes Wort, das sie über ihn sagt, füllt sie mit Leben und Licht. Man glaubt, sie spräche vom Paradies und zeichne es mit ihren Worten; sie beschwört Helligkeit, Freiheit, Wiesen voller Glück und Harmonie. Ihr Blick fixiert das Bild vor ihrem Geist, nicht die, denen sie von ihm erzählt.
Sein Name klingt wie ein Psalm aus ihrem Mund, wie zwei heilige Silben. Wie wenn es ein Privileg wäre, ihn auszusprechen.
Wenn er spricht, saugt sie jedes seiner Worte auf, als wären sie Nahrung - nein, als wären sie ihre Luft zum Atmen. Sie schaut zu ihm auf wie zu jemandem, der einem Engel gleichkommt.
Wenn sie ihn berührt, dann so wie man es bei dem Wertvollsten, das man besitzt, tun würde.
Küsst er sie zur Begrüßung flüchtig auf die Wange, spürt sie noch Stunden danach die Wärme auf der Haut und berührt die Stelle ganz sachte mit den Fingerspitzen, als wolle sie eine Blüte festhalten, sie dabei aber nicht zerstören.
Er ist in der Lage, ihren Tag durch ein einziges Lächeln zu einem der Schönsten ihres Lebens zu machen – und durch ein einziges Wort zu einem der Schlimmsten.
Genauso, wenn andere von ihm sprechen - von ihm und seinem Mädchen.
Dann fällt sie in sich zusammen. Ihre Augen verlieren den Glanz und für ein paar Sekunden erfüllt eine tiefe Traurigkeit ihre ganze Erscheinung. Sie schlägt den Blick nieder und ihr Ausdruck ist niedergeworfen vor der eigenen Leblosigkeit.  Ihr Gang wird unterwürfig, wie gebrochen. Meistens verlässt sie den Raum, weil sie sich vor der eigenen Taubheit schämt. Weil sie vor den mitleidigen Blicken fliehen will, weil die Wände sie plötzlich einengen und ihr die Luft abschnüren. Still und heimlich wird sie auf die Tränen warten, die nicht kommen werden. Dann wird sie zurückgehen, die Zähne zusammenbeißen und durchhalten, so, wie sie es all die Jahre getan hat.
Wenn er sie anlächelt, kann sie für einen Moment lang fliegen. Er schenkt ihr plötzlich Flügel und alles Unglück auf der Welt ist vergessen.
Wenn er von seinem Mädchen erzählt, bricht er ihr die Flügel. Immer und immer wieder. Und Wort für Wort reißt er ihr eine Feder nach der anderen aus und zertritt sie.
Sie kann nicht mehr fliegen, aber sie geht weiter. Denn jeden Schritt, den sie weiterläuft auf ihrem Weg voller Steine und Scherben, geht sie für ihn. Jeden Morgen, an dem sie sich selbst nicht wiedererkennt, wenn sie in den Spiegel sieht, beginnt sie für ihn.
Jeder Blick auf ihr Spiegelbild tut ihr weh. Denn dort sieht sie nicht sich selbst. Da steht eine Fremde, die sie scheu und fast schon entschuldigend anlächelt. Sie tritt näher, sieht ihr in die Augen und berührt das Spiegelglas, das ihr eine verkehrte Welt vortäuscht.

Schneemärchen

Kalt und leise fiel der Schnee
Kunstvoll, weich vom Wind verweht
Legte sich auf Häuser, Bäume
Stützte warme Winterträume
Brachte mit dem Eis das Glück
Und einen klaren Weg zurück.

Umhüllte mich mit sanften Armen
Lullte mich ein im traurig Warmen
Tanzte mit mir durch die Nacht
Doch an eines hab‘ ich nicht gedacht:
Dass Schnee schmilzt und bald verschwindet
Denn Schnee ist niemand, der sich gern bindet.

Er ging so schnell und leise, wie er kam
Und selbst, als er noch meinen Ruf vernahm
Sah er nichtmal kurz zurück
Und mit ihm ging mein teures Glück
Schwand dahin, kehrt nie wieder
Und singt einsam seine Lieder.

Irrlichter

„Geistermorgen“. So nannte ich früher die Tage, die so waren wie dieser.
Tage, an denen man morgens die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, der Himmel noch vollkommen schwarz, die Fenster noch dunkel sind. Es ist nicht kalt, nicht winterlich, aber auch nicht mild. Man hört das Brausen des Windes schon von weitem, bis es den nächstliegenden Baum erreicht und seine wenigen Blätter rauschen lässt. Die Windböe zieht weiter und wirbelt ein wenig Laub spiralenförmig auf, man hört den Hall der eigenen Schritte in der einsamen Straße erst Sekunden später – oder er erreicht einen zu spät. Es herrscht eine unheimliche, aber noch ruhige Atmosphäre. Mit den Gedanken ist man einerseits schon an seinem Ziel, aber unterschwellig surren einem noch die Geister des letzten Tages die Erinnerung, das Vergangene im Kopf herum.
Es raschelt, man reißt ruckartig den Kopf herum. Eine schwarze Katze sitzt mitten auf dem Gehweg und starrt durch einen hindurch. Schnell weiter.
In der Ferne blinken die Lichter der Stadt. Sie scheinen unerreichbar, wie Sterne, wie Irrlichter, die nicht wirklich da sind und dich in die Irre führen wollen. Der Wind flüstert. Er flüstert dir Dinge ins Ohr, die du nicht verstehst, die du vielleicht auch nicht verstehen willst.
Der Wind lügt nicht. Er enthält dir nichts vor, er verheimlicht dir nichts. Er redet nichts schön, er schlägt und peitscht dir die Worte ins Gesicht und du weißt, dass der Wind kein Erbarmen kennt. Und wage es ja nicht, den Versuch zu machen, wegzurennen. Denn dann wird er wütend, er wird zum Sturm.
Besser, du verlangsamst deinen Schritt. Aber pass auf, dass du nicht ZU langsam wirst. Denn dann strecken die Kinder des Windes ihre Arme nach dir aus, kalte, eisige Geisterarme, die dich mit sich reißen wollen in den See der geflüsterten Demütigungen des Windes.
Achte auf deine Schritte. Sei sicher, dass du die richtige Richtung einschlägst. Ist es die Falsche, bist du verloren. Vertraue nicht auf die leichtfertige Überlegung, auch dieser Weg würde dich, wenn auch über einen Umweg, zum Ziel führen. Denn glaub mir, das tun solche Wege NIE. Der falsche Weg ist oft endlos und wenn du erst einmal in dessen Mitte bist, findest du kaum wieder heraus. Gib dich nicht der Versuchung hin, vertraue den Irrlichter nicht, kehre sofort um, wenn du merkst, du bist falsch.
Bist du aber erst einmal auf dem richtigen Weg, kannst du aufatmen denn hier bist du windgeschützt und die Geisterarme werden kürzer. Aber hoch über deinem Wind säuselt der Wind noch, er hat immer ein Auge auf dich, du bist nie ganz allein, nicht an einem Geistermorgen.
Schlägst du wieder einen weniger geschützten Weg ein, zeige keine Furcht vor dem, was der Wind dir sagen wird. Denn der Wind riecht Angst, er riecht sie kilometerweit. Behalte die Angst in dir, verstecke sie, so gut es geht, sei auf dein Ziel gereichtet. Versuche, die Geister in deinem Kopf zu vertreiben, denn sonst ergreifen sie Besitz von dir und lassen dich nie wieder los.
Verbanne den Wind, verbanne seine Kinder, verbanne das Hallen deiner Schritte, wenn du sie ja doch nicht wahrnimmst, vergiss die Irrlichter. Nähere dich zügigen Schrittes deinem Ziel, verbanne den Geistermorgen. Hoffe auf das Tageslicht, das dich erlöst, hoffe darauf, dass du den richtigen Weg einschlägst.
Welcher auch immer der richtige Weg sein mag.

Wie ich Märchen mit McDonalds in Verbindung brachte


Wer von uns Jugendlichen denkt nicht auch einmal an seine alten Kindertage? Die Unbeschwertheit, Freude über die kleinen Dinge, wahre Kameradschaft und nicht zuletzt, die Märchen. Seltsam, dass gerade die meistgeliebten Märchen nicht an erschreckenden Inhalten sparen – es fängt mit Alice im Wunderland von Lewis Carroll an, die beinahe in ihrer eigenen Trauer („Tränensee“) ertrinkt, über Grimms’ Rapunzel, deren Verehrer sich vor lauter Trauer den Turm hinabstürzt – im Weiteren Anders’ Kleine Meerjungfrau, die bei jedem Schritt grausame Qualen erleiden muss, bis hin zu Grimms’ Aschenputtel, deren Stiefschwestern Stücke ihrer Füße abschneiden(„Ruckediguu, Blut ist im Schuh!“), allein um den Königssohn heiraten zu können.
Letzteres erscheint am grausamsten und unwahrscheinlichsten – somit auch märchenhaft. Wer behauptet denn, dass Märchen immer möglichst lasch und kinderfreundlich ausgehen sollen?
Mal abgesehen davon, dass viele Verfilmungen und Bearbeitungen der Märchen „kinderlieber“ ausfallen – Disney beispielsweise ließ die dramatische Bedeutung von Alices Tränensee schrumpfen, Rapunzel verfilmte er erst gar nicht, die Meerjungfrau muss an der Schmerzen Statt ihre Stimme lassen und Aschenputtels Schwestern versuchen sich mit Ach und Krach in den Schuh zu quetschen – ist es immer wieder erstaunlich, wie sehr Kinder auf Märchen anspringen – ob nun im Original oder nicht.
Diese Gedanken hatte ich mir auch schon so einige Male gemacht, als ich ein mehr zum Schmunzeln anregendes als erschreckendes Erlebnis hatte.
Ich streunte an einem Freitagnachmittag zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder durch die Stadt, kaufte mehr oder weniger belangloses Zeug ein und freute mich auf das nahende Wochenende. Die Stadt war für einen Freitagnachmittag untypisch leer und so entschlossen wir, unser Abendessen bei McDonalds einzunehmen, der, so hofften wir, ebenfalls leer sein musste. Nun ja – das Publikum in derartigen Fastfood-Ketten ist nicht immer von der Sorte, die ich „feine, englische Art“ nenne, aber gut – warum eigentlich nicht?
So spazierte ich also hinein ins Getümmel, wenn man es so nennen kann, parkte meinen quengelnden Bruder an einem Tisch und besorgte also diese schrecklichen Papierservietten, die schon beim Ansehen auseinanderfallen, und wartete auf meine Mutter, die sich um die Kalorienbomben kümmerte.
Derweil betrachtete ich die Leute. Der Tisch neben uns war besetzt von zwei lautstark kauenden Gestalten männlicher Art, die jedes weibliche Wesen begutachteten wie ein Stück Fleisch an der Theke. Ich versuchte, ihre Warentheken-Blicke zu ignorieren und konzentrierte mich lieber auf eine Frau, die ihrem dreizähnigen Baby Hamburgerstücke in den Mund schob und auf den Nebentisch, an dem ein Mann in Anzug und Krawatte saß, der Abwesend seinen Kaffee trank, während er angestrengt nachdachte  - möglicherweise darüber, dass er dringend eine neue Kaffeemaschine für seine Abteilung bräuchte oder über einen neuen Aktienkauf – als meine Mutter das vollgeladene Tablett vor mir abstellte. Ich hoffte inständig, einen meiner Freunde anzutreffen damit ich mich wenigstens unterhalten konnte, doch stattdessen schneiten nur zwei relativ herausgeputzte Mädchen um die 18 herein, die sich an den Tisch vor uns setzten.
„Happy meal“, las ich auf dem Menu meines Bruders. „Happy“? Naja. Wie man’s nimmt! Jedenfalls futterte ich „fröhlich“ meinen Salat (der übrigens wirklich lecker und nur zu empfehlen ist!) als mir meine Mutter ins Ohr raunte „Wenn die beiden da vorne nicht auf Männerfang sind, bin ich die Königin von Saba!“
Ich betrachtete die Mädchen also noch eingehender. Die, die direkt mit dem Rücken vor mir saß, trug Jeans und relativ preisgünstig wirkende Pumps, die scheinbar auch schon ihren Dienst getan hatten – ein dickes Pflaster zierte die rechte Ferse.
Oh jaa…wer kennt das nicht? Man will Tanzen gehen und vielleicht sogar seinen Traumprinzen finden, da schleicht sich eine Blase, meist einhergehend mit einem Pickel auf der Nase, in die Pläne und geplatzt ist der Traum.
Meine Gedanken schweiften langsam wieder ab, als ich relativ verdutzt eine Entdeckung machte, die man in einem Fastfood-Restaurant eigentlich nicht erwartet: Unter dem linken Fuß des Mädchens bildete sich eine Blutlache, die auf Tellergröße wuchs.
Ich sah noch zweimal hin, doch es war wirklich so: Blut rann über die Ferse des Mädchens abwärts in den Schuh oder auf den Boden, und sie schien es nicht zu merken! Unwillkürlich schoss es mir durch den Kopf: „Ruckediguu, Blut ist im Schuh! Der Schuh ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim!“
Reichlich irritiert machte ich meinen Bruder und meine Mutter auf die Schweinerei aufmerksam – mein Bruder reagierte natürlich ziemlich forsch und unverschämt, als er das Mädchen mit den Worten „Ähm, entschuldige bitte, aber du blutest“ aufmerksam machte. Dieses reagierte völlig ruhig und leicht apathisch, während die Freundin aufsprang, wild durch das Restaurant hüpfte und die Toilette aufsuchte, über deren Zustand ich jetzt lieber nicht sinniere. Ebenso aufgeregt kam sie mit zwei Händen voll Klopapier wieder heraus, wischte das Blut ihrer Freundin weg, während keiner daran dachte, sich auch mal um die Wunde zu kümmern. So ging das einige Minuten weiter, als meine Mutter, ganz ihrer Bestimmung entsprechend, zum Restaurantpersonal lief und um einen Erste-Hilfe-Koffer bat. „Wir haben eine Ärztin!“, kreischte die völlig hysterisch kichernde Freundin durch den halben Laden ihrer immernoch relativ abwesenden Freundin zu.
Nun ja – das, was mit dem Wort „Erste-Hilfe-Koffer“ umschrieben wurde, gestaltete sich als relativ viel Toilettenpapier, zwei Pflastern und Friseusenhandschuhen. Meine Mutter besah sich die Wunde, die sich als Durchtrennung mehrerer Hautschichten herausstellte, und anschließend die Box mit dem Klopapier-Inhalt, als sie dem peinlich hilflosen Personal eröffnete, das Verbandsmaterial sei mehr als mangelhaft, außerdem sei sie nicht im Dienst und somit ohne Arztkoffer unterwegs und müsse jetzt den Krankenwagen rufen.
Endlich kam das vor sich hin blutende Mädchen auf die Idee, den Fuß hochzulegen. Als der Krankenwagen gerufen wurde, guckte sie nur gelangweilt, während ihre Freundin nahe einer Ohnmacht war.
Die restlichen Gäste hatten teilweise ihr nur halb aufgegessenes Menu stehen gelassen und hatten das Restaurant verlassen – zu Recht. Wer betrachtet schon gerne blutende Mädchen, während man isst?
Kurz nach Diagnosestellung verließen auch wir McDonalds und trafen noch direkt daneben einen der zuständigen Manager. Dieser wurde von meiner Mutter auf ziemlich direkte Art und Weise zusammengestaucht, dass ein solcher Betrieb einen gut ausgestatteten Erste-Hilfe-Koffer und nicht nur Klopapier besitzen sollte, dass man die Kette wegen mangelnder Rettungsausstattung vor Gericht ziehen könne und so weiter und so weiter. Nein, was ein Erlebnis!
Nun, ich vermute, das mit der Traumprinz-Suche und Tanzen gehen wurde dann nichts mehr. Ich jedenfalls zog eines der alten Märchenbücher heraus, und schlief über Aschenputtel ein.
Als ich am nächsten Nachmittag mit schmerzenden Füßen von einem Stadtbummel nach Hause kam, spürte ich ein schmerzhaftes, wundes Ziehen über der Ferse. Oh nein…
Doch, was ein Glück „Ruckediguu, kein Blut im Schuh! Der Schuh ist nicht zu klein, die Rechte Braut, die führt er heim!“, und machte mich auf, zu meinem Prinz.

Dienstag, 19. Juli 2011

Kleines Solo

...gefunden:

Erich Kästner - Kleines Solo

Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.


Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Mußt erfahren,
daß es nicht die Liebe ist ...
Bist sogar im Kuß alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Gedanken dazu:
Ein Gedicht, das genau ausdrückt, wie ich denke. Exakt. Mit dem Nagel auf den Kopf getroffen! Als ich es zum ersten mal las, fand ich mich sofort wieder.
"Einsam bist du sehr alleine". Alleine ist man nämlich nicht automatisch einsam. Alleinsein hat nicht unbedingt etwas mit diesem Gefühl der Einsamkeit zu tun. Einsamkeit drückt eine Leere, eine Verlassenheit aus, Alleinsein nur, dass man für sich ist. Man kann sich auch sehr gut, erfüllt und glücklich fühlen, wenn man allein ist. Nicht aber, wenn man Einsam ist. Einsamsein ist sozusagen Alleinsein plus Verlassensein.
"Aus der Wanduhr tropft die Zeit." Dieses Gefühl, wenn man auf die Uhr starrt und der Zeiger sich so schleichend langsam immer ein Stückchen weiter bewegt. Wie zähe Masse, die Tropfen für Tropfen auf dem Boden aufschlägt.
"Stehst am Fenster. Starrst auf Steine." Starrer Blick nach draußen, auf den unbeweglichen Asphalt und Häuser gegenüber. Warten darauf, dass etwas passiert. Merken, dass sich nichts ändert.
"Träumst von Liebe. Glaubst an keine." Tagträumereien, die die Laune versüßen sollen, aber nichts wert sind, weil es zwar die Träume sind, die uns tragen, aber nicht wirklich zu etwas führen. Die Erkenntnis, dass Träume Schäume sind.
"Kennst das Leben. Weißt Bescheid." Resignation.
"Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit." Nebeneinander sitzen und so weit entfernt voneinander zu sein wie Nord- und Südpol.
"Wünsche gehen auf die Freite. Glück ist ein verhexter Ort." Erfüllung von Wünschen als Freiwild; wer es schießen kann, hat Glück, wer nicht, der eben nicht. Glück als "Befindlichkeit" und somit eine Empfindung und ein räumlicher Ort, in dem man sich so schnell wiederfindet wie auch verläuft.
"Kommt dir nahe. Weicht zur Seite. Sucht vor Suchenden das Weite. Ist nie hier. Ist immer dort." Das Gras ist schließlich grundsätzlich grüner auf der anderen Seite. Dem Glück wachsen schnell Beine und es flieht vor dir, wenn du es gerade eine Sekunde unbeobachtet lässt.
"Stehst am Fenster. Starrst auf Steine." Durch eine dünne Glaswand getrennt vom Geschehen. Dem Geschehen so nah sein und doch nichts davon mitbekommen.
"Sehnsucht krallt sich in dein Kleid." Ach ja, die Sehnsucht. Das schwere, so elendlich quälend verweilende Monster, dass sich in dir dir verbeisst und nicht mehr los lässt.
"Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit." Man redet miteinander, doch man hat sich nichts zu sagen. Die Worte sind nur Schall und Rauch, haben keine Bedeutung, man weiß, der andere hört sowieso nicht zu. Und umgekehrt.
"Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren." Sich aufgeben für den anderen fühlt sich nach und nach an wie ein sinnloses Geschenk, fast, wie Verschwendung, weil man nichts zurückbekommt. Gibst alles von dir und bekommst nichts zurück.
"Magst nicht bleiben, wie du bist." Du veränderst, verbiegst dich für den anderen. Krempelst dein Leben immer mehr um. Merkst, dass es nichts bringt. Denkst, du bist Schuld. Willst immer mehr ein anderer Mensch werden, bist immer weniger du selbst.
"Liebe treibt die Welt zu Paaren. Wirst getrieben. Musst erfahren, dass es nicht die Liebe ist." Erkennst, dass du dich immer wieder in den Menschen täuschst - man bekommt nichts geschenkt im Leben.
"Bist sogar im Kuss alleine." Manchmal sogar einsam. Viel zu oft kommt es vor, dass man sich körperlich nah ist, es aber nichts zu bedeuten hat. Normal wird. Zum Zeitvertreib.
"Aus der Wanduhr tropft die Zeit." Langsam aber beständig läuft das Leben ab. Mal will man es verlangsamen, mal beschleunigen, mal zurückdrehen, mal vorspulen. Aber die Geschwindikeit bleibt beständig. Es tropft und tropft weiter. Zeit ist wohl das einzig Konstante im Leben.
"Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine." Fängst an, zu wandern. Magst nicht hinaus, magst dich aber auch nicht vor der Außenwelt verschließen.
"Brauchtest Liebe. Findest keine." Die Suche geht irgendwann nicht mehr weiter, irgendwann gibst du auf.
"Träumst vom Glück. Und lebst im Leid." Hältst dich mit Tagträumen über Wasser, lebst vor dich hin, bist alles -  nur nicht glücklich.
"Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit." Merkst, dass du dich unter Menschen befindest, aber doch fürchterlich einam bist und niemand dich erreicht. Bist lieber allein, statt zusammen einsam.

Meine Interpretation! Hat etwas sehr Melancholisches, aber mir gefällt's. Sicherlich kann man interpretatorisch noch weiter in die Tiefe gehen, aber diese gewisse Schlichtheit des Gedichtes macht es meiner Meinung aus. :)