"Was wären wir ohne ein paar Verrückte? Seht, wo uns die Vernünftigen hingebracht haben!" - George B. Shaw

Samstag, 23. Juli 2011

Irrlichter

„Geistermorgen“. So nannte ich früher die Tage, die so waren wie dieser.
Tage, an denen man morgens die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, der Himmel noch vollkommen schwarz, die Fenster noch dunkel sind. Es ist nicht kalt, nicht winterlich, aber auch nicht mild. Man hört das Brausen des Windes schon von weitem, bis es den nächstliegenden Baum erreicht und seine wenigen Blätter rauschen lässt. Die Windböe zieht weiter und wirbelt ein wenig Laub spiralenförmig auf, man hört den Hall der eigenen Schritte in der einsamen Straße erst Sekunden später – oder er erreicht einen zu spät. Es herrscht eine unheimliche, aber noch ruhige Atmosphäre. Mit den Gedanken ist man einerseits schon an seinem Ziel, aber unterschwellig surren einem noch die Geister des letzten Tages die Erinnerung, das Vergangene im Kopf herum.
Es raschelt, man reißt ruckartig den Kopf herum. Eine schwarze Katze sitzt mitten auf dem Gehweg und starrt durch einen hindurch. Schnell weiter.
In der Ferne blinken die Lichter der Stadt. Sie scheinen unerreichbar, wie Sterne, wie Irrlichter, die nicht wirklich da sind und dich in die Irre führen wollen. Der Wind flüstert. Er flüstert dir Dinge ins Ohr, die du nicht verstehst, die du vielleicht auch nicht verstehen willst.
Der Wind lügt nicht. Er enthält dir nichts vor, er verheimlicht dir nichts. Er redet nichts schön, er schlägt und peitscht dir die Worte ins Gesicht und du weißt, dass der Wind kein Erbarmen kennt. Und wage es ja nicht, den Versuch zu machen, wegzurennen. Denn dann wird er wütend, er wird zum Sturm.
Besser, du verlangsamst deinen Schritt. Aber pass auf, dass du nicht ZU langsam wirst. Denn dann strecken die Kinder des Windes ihre Arme nach dir aus, kalte, eisige Geisterarme, die dich mit sich reißen wollen in den See der geflüsterten Demütigungen des Windes.
Achte auf deine Schritte. Sei sicher, dass du die richtige Richtung einschlägst. Ist es die Falsche, bist du verloren. Vertraue nicht auf die leichtfertige Überlegung, auch dieser Weg würde dich, wenn auch über einen Umweg, zum Ziel führen. Denn glaub mir, das tun solche Wege NIE. Der falsche Weg ist oft endlos und wenn du erst einmal in dessen Mitte bist, findest du kaum wieder heraus. Gib dich nicht der Versuchung hin, vertraue den Irrlichter nicht, kehre sofort um, wenn du merkst, du bist falsch.
Bist du aber erst einmal auf dem richtigen Weg, kannst du aufatmen denn hier bist du windgeschützt und die Geisterarme werden kürzer. Aber hoch über deinem Wind säuselt der Wind noch, er hat immer ein Auge auf dich, du bist nie ganz allein, nicht an einem Geistermorgen.
Schlägst du wieder einen weniger geschützten Weg ein, zeige keine Furcht vor dem, was der Wind dir sagen wird. Denn der Wind riecht Angst, er riecht sie kilometerweit. Behalte die Angst in dir, verstecke sie, so gut es geht, sei auf dein Ziel gereichtet. Versuche, die Geister in deinem Kopf zu vertreiben, denn sonst ergreifen sie Besitz von dir und lassen dich nie wieder los.
Verbanne den Wind, verbanne seine Kinder, verbanne das Hallen deiner Schritte, wenn du sie ja doch nicht wahrnimmst, vergiss die Irrlichter. Nähere dich zügigen Schrittes deinem Ziel, verbanne den Geistermorgen. Hoffe auf das Tageslicht, das dich erlöst, hoffe darauf, dass du den richtigen Weg einschlägst.
Welcher auch immer der richtige Weg sein mag.

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